Rechtswidrige Gewaltausübung

Forschungsprojekt KviAPol

Ruhr-Universität Bochum:
Studie zu Polizeigewalt

Das neue Polizeigesetz NRW hat die Befugnisse der Polizei erweitert.

Um zu beurteilen, ob eine immer weiter fortschreitende Ausdehnung der Grenzen polizeilicher Befugnisse im Interesse der Allgemeinheit sein kann oder nicht, ist es naheliegend, die bisherige Anwendung der Polizeirechte einer Prüfung zu unterziehen.

Ein Alleinstellungsmerkmal polizeilicher Befugnisse ist die von Rechts wegen erlaubte Anwendung körperlicher Gewalt, wenn sie als unumgänglich zum Schutz eines höheren Rechtsgutes als des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit eingestuft werden kann.

Viele Menschen in Deutschland haben das Glück, mit Polizeigewalt keine persönlichen Erfahrungen sammeln zu müssen. Deshalb bilden Berichte aus erster Hand betroffener Menschen eine unverzichtbare Grundlage für eine umfassende Begutachtung der gegenwärtigen Lage. Aktuell wird zu eben diesen Erfahrungen eine groß angelegte Studie „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) an der Ruhr Universität Bochum durchgeführt. Das Projekt betrachtet für Deutschland erstmalig systematisch rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendung aus der Perspektive der Opfer und im Kontext des polizeilichen Bearbeitungsprozesses. Im Fokus stehen dabei Viktimisierungsprozesse, das Anzeigeverhalten und die Dunkelfeldstruktur, die mit einer quantitativen Opferbefragung (Online-Fragebogen) und qualitativen Expert*inneninterviews untersucht werden. Der Abschlussbericht ist ab 2020 geplant.

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Am 17. September 2019 wurde ein Zwischenbericht über den ersten Teil der Studie veröffentlicht. Er basiert auf der Auswertung derjenigen 3375 Online-Fragebögen, in denen sich die Betroffenen darüber mitgeteilt haben, dass sie Erfahrungen mit körperlicher Gewalt durch Polizist*innen gemacht haben, die sie als übermäßig bzw. rechtswidrig bewerten. Autor*innen sind Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau und Prof. Dr. Tobias Singelnstein.

Studiendesign

Von den berichteten Fällen fanden 80 % im Umfeld von Veranstaltungen statt. Auf Grund des Einflusses der Einsatzsituation auf die berichteten Merkmalsausprägungen definiert die Studie drei Teilstichproben:

  1. Demonstrationen (42 %) und politische Aktionen (13 %),
  2. Fußballspiele (22 %) und andere Großveranstaltungen (3 %),
  3. Sonstige Einsätze (20 %).

Da weniger als rund 0,5 % der Bevölkerung für die Teilnahme an der Studie in Frage kommen, wurden die Befragten nicht zufällig ausgewählt, womit die Stichprobe nicht repräsentativ für die Erfahrungen mit Polizeigewalt in der Gesellschaft insgesamt ist. Einige Ergebnisse der Studie lassen dennoch eine Verallgemeinerung zu. Der Studie zufolge „liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich bei Demonstrationen, politischen Aktionen und Fußballspielen um Situationen handelt, in denen das Phänomen in besonderer Weise eine Rolle spielt“. Zur Abschätzung der Verbreitung des Phänomens unter Rückgriff auf das Hellfeld siehe weiter unten.

Im Rahmen des Fragebogens wurde auch dem*der juristischen Lai*in durch Erläuterungstexte eine Beurteilung ermöglicht, ob der von Rechts wegen erlaubte Rahmen polizeilicher Gewalt überschritten worden war. In jedem Fall belegt die Teilnahme an der Studie die immer noch andauernde subjektive Empfindung der betroffenen Menschen, zu Unrecht zu einem Opfer geworden zu sein. Eine rechtliche Einordnung jedes Einzelfalls war nicht Ziel der Untersuchung. Die Erfahrung mit psychischer, verbaler oder als gerechtfertigt eingestufter Gewalt durch die Polizei ist nicht Gegenstand des ersten Teils der Studie, entsprechende Fragebögen wurden nicht weiter ausgewertet.

Da die Fragebögen verschiedenen Plausibilitätsprüfungen unterzogen wurden, wobei acht Prozent aussortiert wurden, konnte bei der weiteren Analyse von wahrheitsgemäßen Angaben über die eigenen Einschätzungen ausgegangen werden.

Äußere Umstände

Über rechtswidrige Gewalt bei Demonstrationen und politischen Aktionen berichteten zu 98 % eher politisch links eingestellte Personen. Dass bei Demonstrationen/politischen Aktionen der Anteil weiblicher Gewaltopfer bei 32 % liegt, während er bei Einsätzen außerhalb von Veranstaltungen nur 18 % beträgt, ist nicht allein durch die Nicht-Repräsentativität der Studie erklärbar. Bei Demonstrationen und Fußballspielen war für besonders viele Studienteilnehmer, nämlich über ein Drittel, kein Grund für den unangemessenen Gewaltausbruch ersichtlich.

Außerhalb von Veranstaltungen zeigt die Unterschiedlichkeit der Kontexte, dass es prinzipiell in jeder Einsatzsituation zu rechtswidrigem polizeilichem Gewalteinsatz kommen kann. Beispielsweise riefen zwölf dieser 673 Fragebogenteilnehmer*innen selbst wegen einer Schlägerei oder eines (Verkehrs-)Unfalls die Polizei zu Hilfe und erlebten in der Folge übermäßige bzw. rechtswidrige körperliche Gewalt durch die Polizei. Für 112 der 673 Einsätze war der Anlass eine (Personen-)Kontrolle ohne Verdacht einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat. Es steht zu befürchten, dass diese Fallzahlen bei fortschreitender Anwendung der neu in Nordrhein-Westfalen eingeführten strategischen Fahndung (§ 12a PolG NRW) noch ansteigen werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass diese Maßnahme im Wesentlichen bereits beim Antreffen in einem abstrakten Gebiet die Befragung, Identitätsfeststellung und die Aufforderung zum Öffnen mitgeführter Behältnisse erlaubt, so dass ein sofortiges Verständnis für diesen Eingriff in die Rechte des*der Einzelnen bei eher wenigen Menschen vorausgesetzt werden darf.

Tatmerkmale

Gehören Deeskalationsstrategien auch zur Ausbildung von Polizeibeamt*innen, und mögen sich auch einige Betroffene schon im eigenen Interesse selbst um Deeskalation bemüht haben, kam es dennoch in der Mehrzahl der Fälle sehr schnell zu der mitgeteilten Ausübung körperlicher Gewalt durch die Polizei, nämlich in 34 % der Fälle bereits weniger als zwei Minuten nach dem ersten Kontakt, in weiteren 20 % der Fälle wurde sogar überhaupt keine vorherige Kontaktaufnahme versucht.

Immerhin 20 % der Fälle fanden in einer Wache, einem Gewahrsam oder einem Fahrzeug der Polizei statt, also an Orten, die ideale Voraussetzungen für eine Konfliktlösung ohne übermäßige bzw. sogar rechtswidrige Gewalt bieten sollten. Auch hier wird das Risiko, Opfer einer solchen Rechtsüberschreitung zu werden, durch die teilweise deutlich verlängerte Gewahrsamsdauer im neuen Polizeigesetz NRW (§ 38 PolG NRW) erhöht.

Fast zwei Drittel der Opfer wurden unter anderem geschlagen (auch mit einem Schlagstock). Bei Großveranstaltungen waren in ungefähr der Hälfte der Fälle auch Reizgas (Pfefferspray) und in 38 % der Fälle Tritte Teil der Gewalthandlungen.

Der Taser wurde als Waffe erst kürzlich in den Polizeigesetzen einiger Bundesländer zugelassen. Die erste Ausgabe an deutsche Polizist*innen erfolgte am 6. Februar 2017, damals nur für das Bundesland Berlin. 61 bis 62 % der Fälle der Studie fanden vor 2017 statt, und in NRW wurde die Zulassung des Tasers überhaupt erst während der Erhebungsphase der Studie beschlossen (§ 58 PolG NRW). Insofern verwundert es nicht, dass die von den Studienteilnehmer*innen berichtete rechtswidrige Gewalt nur in vier Fällen mittels eines Tasers verübt wurde: Zweimal im Zusammenhang mit Demonstrationen oder politischen Aktionen und zweimal bei Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen.

Auswirkungen

19 % der Befragten erlitten als schwer kategorisierte Verletzungen, welche die Gelenke, Augen, Ohren, Knochen und andere Körperteile betrafen. Da dieser Anteil bei jeder der drei Teilstichproben zwischen 18 und 24 % lag, dürfte er sich auch bei einer repräsentativen Studie in einem ähnlichen Bereich bewegen.

85 % der Befragten empfanden etwas stärkere bis unerträgliche Schmerzen. Der Heilungsprozess dauerte für ein Drittel der Betroffenen einige Wochen und länger.

Die psychischen Folgen beeinträchtigen für über die Hälfte der Befragten ihr gesamtes Leben auch in mit der Erfahrung nicht in Verbindung stehenden Alltagssituationen, 9 % nahmen auch psychologische Hilfe in Anspruch.

Anzeigeverhalten und Verfahren

Für 7 % der Fälle ist unbekannt, ob ein Verfahren eingeleitet wurde. In den restlichen Fällen wurde zu 86 % kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, womit sie im Dunkelfeld verblieben und nicht in das amtlich bekannte Hellfeld gelangten. Die Autor*innen der Studie gehen davon aus, dass es im Vergleich häufiger vorkommt, dass Betroffene, die keine Anzeige erstattet haben, auch nicht an einer Studie teilnehmen möchten, als es vorkommt, dass Betroffene, die bereits den Schritt zu einer Anzeige gegangen sind, vor einer Studie zurückschrecken. Hieraus leiten sie ab, dass das gesamte Verhältnis Dunkelfeld zu Hellfeld, auch wenn die Studie nicht repräsentativ ist, mindestens in einer ähnlichen Größenordnung liegt; bei einer konservativen Schätzung schwächen sie dieses zu einem Verhältnis von mindestens 5:1 ab. Das gesamte Hellfeld ist bekannt, nämlich in jedem Jahr ungefähr 2000 Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen wegen rechtswidriger Gewaltausübung.

Die Befragten entschieden sich oft dagegen, Anzeige zu erstatten, weil sie annahmen, dass ihnen in einem Prozess gegen eine*n Polizist*in kein Recht widerfahren werden würde, weil sie Gegenanzeigen als Reaktion vermuteten oder weil sie die handelnden Polizist*innen nicht identifizieren konnten. Letztere Einschätzung wurde besonders bei Demonstrationen/politischen Aktionen und Fußballspielen/anderen Großveranstaltungen genannt, vermutlich auf Grund der hohen Anzahl einheitlich gekleideter und teilweise vermummter Polizist*innen, und tatsächlich war dies hier der Grund für 43 % der Verfahrenseinstellungen.

Die Verfahren, über die hinreichende Informationen vorliegen, führten zu 93 % nicht zu einer Anklage oder einem Strafbefehl. Laut der bundesweiten Statistik über alle Verfahren gegen Polizeibedienstete wegen Gewaltausübung und Aussetzung (§§ 340 und 221 StGB) führen sogar 97 bis 98 % nicht zu einer Anklage bzw. einem Strafbefehl, während dies bei Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung im Allgemeinen nur 79 % sind.

Schlussbemerkungen

Vor dem Hintergrund, dass Polizeibeamt*innen einen Beruf gewählt haben, der dem Schutz des Rechts dienen soll, zeigen diese Fälle, dass es eine Vielzahl von Situationen gibt, in denen sie damit überfordert sein können, diesem Anspruch gerecht zu werden, indem sie selbst zum*zur Täter*in werden. Dass die Verfahren gegen sie, wenn überhaupt eingeleitet, fast immer von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden, verstärkt einen inneren Konflikt vermutlich weiter.

Ziel des Projekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ ist es, eine wissenschaftliche Grundlage für die fachliche wie auch die gesellschaftliche Debatte um rechtswidrige polizeiliche Gewaltanwendungen zu bieten. Das große Interesse allein an den Zwischenergebnissen macht deutlich, wie dringlich empirische Befunde zu diesem Thema erwartet werden.